8.6.18
San Juan de Ortega nach Burgos

7:30 Uhr geht es los. Ich habe meine Blase rechts und links nun mit Leukoplast und zusätzlich mit Panzerband getaped, da der Kleber des Leukoplast sich gestern durch das Band gearbeitet und die Socken verklebt hat. Nun, durch das Panzerband kommt nichts durch und glatt ist es an der Oberfläche auch noch. Mal sehen, wer heute gewinnt.
Wenige Meter nach der Herberge komme ich schon in einen Wald. Die Vögel zwitschen, aber sonst ist es still. Toll diese Ruhe. Schmerzen habe ich aktuell keine. Alles Prima. Toller Körper. Der verpackt einiges. Tag 12 ist heute und ohne es beschreien zu wollen, keine der befürchteten Horrorszenarien sind eingetreten, nichts konnte mich bisher zum Verweilen zwingen. Toi Toi Toi.

Wenn ich abends in der Herberge im Bett liege und auf das Einschlafen warte, liege ich oft lange wach. Ich bin halt nicht wirklich müde. Ich, also Ich habe ja auch nicht viel getan. Meine Beine sind geaufen und ich habe ein bisschen gegrübelt. Aber der überwiegende Teil des Körpers und des Geistes hatte den ganzen Tag Pause. Ich horche also in die Stille der Nacht, meist ist es um 22:00 Uhr - Zapfenstreich in den Herbergen -, und höre den anderen beim Schlafen zu..... Dann irgendwann schraube ich mir die Ohrstöpsel rein und genieße es, wenn durch die langsam eintretende Ausdehnung der Ton ausgeht. Dann drehe ich mich auf die Seite und wünsche mir einen nackten Rücken, genaugenommen DEN nackten Rücken herbei, an dem ich schnuppern kann und DEN Busen, den ich zum Einschlafen gerne in die Hand nehme. Nun Busen und Rücken gibt es hier reichlich. Allerdings nicht in Armlänge erreichbar und nicht die richtigen. Das Mischungsverhältnis Mann und Frau ist hier in etwa halbe halbe. Zwischen 20 und 50+ aber auch jünger und deutlich älter und eben aus allen Teilen dieser Erde (bei manchen Erscheinungen schwant mir sogar galaktische Beteiligung). Hüpsch sind die Mädchen auf dem Camino alle. Alleine schon deswegen, weil sie auf dem Camino sind. Da aber die Schlafsäle groß (30 bis über 100 Menschen) und die Bunkbeds meist recht wackelig konstruiert und durch Gänge getrennt sind, ist kuscheln hier schon alleine aus physikalischen Gründen nicht möglich. Ferner ist man froh, um jede Bewegung, die eben nicht stattfindet, weil sie Geräusche verursacht. Zwar kommt es vor, dass gelegentlich zwei Bunkbeds nebeneinander stehen und die Gänge dann rechts und links davon sind, was logistisch in Bezug auf den Platzbedarf für Gänge durchaus schlau ist, dass ein Doppelbettcharakter aufkommt, oben wie unten. Leider war es jedoch bisher so, dass in diesen Fällen die jeweiligen Bettnachbarn nicht über Busen verfügten, jedenfalls nicht Busen im klassischen Sinne.....

Allerdings sind Pilger auch geschlechtsneutral. Ist es doch, gemessen an meiner Person, so, dass ich nach dem Eintreffen in einer Herberge zunächst für 1-2h willenlos ins Bett falle. Danach winde ich mich langsam wieder raus, alle Beinmuskeln, insbesondere die Achillessehen, haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits um geschätzt einen halben Meter verkürzt, und gehe Wäsche waschen und ggf. etwas zu Essen oder Trinken für den Abend oder den kommenden Tag organisieren. Das schmerzt und ist wesentlich von dem Willen und dem Vorsatz geprägt, möglichst unmittelbar im Anschluß wieder ins Bett zu kommen. Bettaktivitäten sind da zunächst grundsätzlich nicht in der Planung. Hinzu kommt, dass die Herbergen meist gegen Abend zu rund 90% gefüllt sind. Die Bettbezüge haben, sofern überhaupt vorhanden, eine Dichte, von der jede Teebeutelhaut nur träumen kann. Davon ausgehend, dass die durchgelegenen Matratzen viele Jahre alt sind und beinahe täglich einen Pilger aufnahmen, hat eine solche Herbergsmatratze also in allen Fällen viele tausend Pilger vor mir aufgenommen. Gott Lob für jeden, der darauf auf unnötige Aktivitäten verzichtet hat! Dass die Reinigungskräfte hier auch nicht für jede Matratze einen eigenen Lappen verwenden und das Wasser wechseln, dürfte sich von selbst erklären. Pilger vermehren sich auch nicht durch Geschlechtsverkehr, sondern durch Berufung. Ebenso wie Klosterbrüder/schwestern und katholische Priester.

Bei der Gelegenheit frage ich mich, was/wer mich wohl berufen hat, diese Weg zu gehen. Vor allem bin ich selber beeindruckt, dass mir noch immer nicht langweilig geworden ist. Ich denke ein wenig nach, über die Möglichkeiten, die ich in Kirche oder Kloster hätte und was ich dort tun könnte. Na klar könnte ich jetzt Theologie studieren. Eine Dr.-Arbeit schreiben und ein paar Vorträge halten. Ob ich Priester werden könnte weiß ich nicht. Wenn, dann aber auch weiter machen und Bischhof werden. Dann ab nach Rom und mitgestalten. Villeicht mal Bischhof von Rom? Na vermutlich fehlen mit dafür 30 Jahre hauptberuflicher Kirchendienst und sicher fehlte es für eine immerhin demokratische Wahl zum Bischhof von Rom an dem Zuspruch anderer. Dazu ist die bereitwilige Gefolgschaf und die Vertretung von Mehrheitsansichten erforderlich. Das ist nicht meins und dafür bin ich zu ehrlich, was wiederum zu vermindertem Zuspruch anderer führt. Also: das ist nichts für mich. Ich bin demnach sicher nur für weltliche Taten berufen. Da aktive politische Aktivitäten aus den gleichen Gründen ausscheiden, ist mein Platz in der Wirtschaft. Den habe ich grundsätzlich auch schon gefunden und meines Erachtens auch gut gefüllt. Die soziale Komponente lasse ich dadurch einfließen, dass wir meist ohne Ansehung der Person auch ganz fremden/einfachen Menschen ein zu Hause geben.

Der Wald lichtet sich und ich komme auf eine Anhöhe und genieße einen Moment die Aussicht. Jemand hat einen kleinen Steinhaufen am Wegesrand gelegt und darum einen Kreisel. Eine Pilgerin geht im Kreis durch die Ringe bis ins Innere. Was das soll weiß ich nicht, finde es aber lustig. Da hier der ganze Tag aus geradeausgehen besteht, ist das mal eine lustige Abwechselung und lenkt den Blick auf andere Seite. Der Kreisel ist vermutlich im Laufe der Jahre durch Anlegen weiterer Steine durch andere Pilger gewachsen. Auch eine Form, sich zu verewigen. Jedenfalls schöner als das Beschmieren von Wegweisen und Schnitzen in Baumrinden á la "Ich war hier" oder so. Ich nehme einen tiefen Schluck Wasser, übrigens ohne Kohlensäure. Was anderes gibt es eigentlich auch nicht. Wenn ich sonst schon mal bei Mama zu Besuch bin, und dieses abgestanden wirkende lauwarme Wasser getrunken habe, musste ich mich immer schütteln. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und zum Trinken während des Gehens ist es allemal besser.

Ich erreiche Ages und es beginnt zu tröpfeln. Vor mir eine Bar mit einigen bekannten Gesichtern. Ich setze mich auf einen Stuhl unter einen Schirm und beschaffe mir einen Milchkaffee. Perfektes Timing. Wäre ich hier zehn Minuten früher angekommen, wäre ich einfach weitergegangen und in dem Regen komplett nass geworden. Wäre ich zehn Minuten später hier angekommen, wäre ich bereits nass. Mehr und mehr drängt sich mit der Verdacht auf, dass ich nicht alleine unterwegs bin. Jemand hält eine Art Schrim über mich.

Zwanzig Minuten später ist es wieder trocken und ich gehe weiter. Einige Pilger haben sich über die Musik unterhalten, die sie auf ihren mobilen Geräten gespeichert haben und die sie unterwegs höhren. Ich bin froh, keine Musik hören zu müssen. Ich genieße die Ruhe bzw. die Töne der Natur und ärgere mich zuweilen schon über die lauten Fahrräder. Musik würde mich doch sehr ablenken und meinen Geist blockieren. Dieses Tagebuch gäbe es dann wohl eher nicht. Ich kann meinen Kopf leeren und die Ideen, Gedanken und Pläne notieren und in diesem Tagebuch festhalten zum Nachlesen. Das macht frei. Immerhin hat sich hier in den letzten zwanzig Jahren eine Menge angesammelt, das neu durchdacht oder elemniert werden muß. Dazu war in den letzten beiden Jahrzehnten keine Zeit. Jetzt kann ich mal ein paar Dinge im Geiste durchspielen und wenn sie mir gefallen, schreibe ich sie einfach auf. Vielleicht teile ich Sie dann später sogar als Anlagen zu diesem Tagebuch. Dabei singe ich ab und zu selber etwas und vermutlich sind die Pilger mit Musikstöpsel im Ohr froh, dass sie ihre Musik haben und deswegen meine nicht hören müssen....
Ich habe nun Zeit für mich.

Ein Kuckuck ruft und ich entdecke ihn auch. Ich klopfe auf die Hosentasche mit den Nüssele, wie ich es von zu Hause gelernt habe.
Es geht bergab und ich habe inzwischen gelernt, dass ich langsam bremsend aber flüssig gehend, quasi nicht in einzelnen Schritten, am besten voran komme. Ich gehe leicht in die Knie, lehne mich etwas zurück und lasse langsam laufen. Sieht vielleicht komisch aus, vermeidet aber Schmerzen in den Knien im Vergleich zum normalen Abstoppen bei jedem Schritt.

Heute gab es unterwegs keine Bar und keinen Truckstop, jedenfalls nichts was offen hatte. Blöd. Demnach gab es auch keine Mittagspause und die Füße tun sehr weh. Ich will auf´n Arm und träume von Sauerbraten vom Pferd mit Klößen, so mit Töpfe auf den Tisch und heißen Tellern und so. Außerdem träume ich von einer einfachen Pommesbude. So mit Grillhähnchen, Schnitzel oder Currywurst. Das gibt es hier offenbar nicht. Nur Patas und Tortillas. Eierkuchen mit Kartoffeln und keine Ahnung was alles drin. Steht überall rum und sieht komisch aus. Ich habe offenbar den Weg verloren und bin nun in Villayuda a la Ventilla. Ist nicht falsch aber auch nicht richtig. Ich hoffe auf eine Bar mit Wifi. Es sind noch ca. 4 km bis Burges den Autoschildern zur Folge. Durchhalten wäre möglich, lieber wäre mir jedoch ein Grillhähnchen mit Pommes und eine ausgedehnte Pause.

Ich treffe auf Elisabeth. Die erste und einzige Pilgerin seit einer gefühlten Ewigkeit. Sie hat auch pain in den Füßen und ist wie ich falsch gelaufen. Da: ein Truckstop. Geil. Ich gehe rein, sie geht weiter. Ich setze mich und studiere die Karte. Ist bebildert und nix was ich so möchte. Also einfach eine Pommes und ein Bier. Ich versuche das dem Barkeeper klarzumachen. "Patas fritas y una cerveza pro favor". Der Redeschwall der nun über mich hereinbricht, lässt mich vermuten, dass das Geschäftskonzept hier so wie in einem Subway funktioniert. Da kannste auch nicht einfach bestellen ohne ein Dutzend Rückfragen zu beantworten. Ich versuche es nochmal in englisch und nehme Hände und Füße sowie einschlägige Bilder aus der Karte zu Hilfe. Ohne Erfolg. Der blöde Spanier labert in einem durch und lässt sich auch auf mein Englisch nicht ein. Rassist!
Ich sattel wieder auf und gehe raus. Scheiße!

Kurz drauf komme ich an einem großen Fußballfeld vorbei. Menschenleer. Parkbänke. Ok, das ist meine Gelegenheit für eine Pause. Zwar gibt es nichts zu essen und trinken, aber ich kann mich etwas hinlegen und neue Kraft sammeln. Kaum sitze ich und habe die Schuhe aus, fängt es an zu tröpfeln. Ich schaue in die Wolken und woher die kommen und stelle schnell fest: Das wird schlimmer werden. Was soll denn das jetzt Herr Jakobus? Schnell die Schuhe wieder an und los in die Stadt rein und unter Vordächern entlang dem Regen davon laufen. Ich schimpfe vor mich hin und beschwere mich Jakobus. Drohe ihm sogar, Petrus zu informieren. Dann, wie aus dem Nichts: eine Pommesbude. Im Fenster ein Foto von einem halben Hähnchen mit Pommes. Ja ist das denn möglich. Ich entschuldige mich bei Jakobus und gehe rein. Jetzt regnet es richtig. Ich setze mich an einen der beiden Tische und bestelle Pommes und Pollo. Die kleine schwarze Spanierin hinter der Theke labert mich voll. Och nee, nicht schon wieder. Gib mir einfach was zu essen. Ich sage ein paar mal si und hoffe dass sich etwas tut. Kurz drauf bekomme ich einen Teller mit 10 Hähnchenbollen und Pommes sowie ein Bier serviert. Das Tagesmenü scheinbar. Geil. Ich esse genüsslich und nage die Knochen sauber ab. Knorpel gibt wieder Knorpel hat Vater mal gesagt und Knorpel kann ich in diesen Tagen brauchen. Als ich fertig bin mit essen, hört es auf zu regnen. Beinahe schade, denn es war gerade gemütlich geworden. Das ist hier wie eine kleine Durchgangskneipe. Meist Männer in gesetzem Alter kommen rein und trinken ein Bier oder ein Glas Wein und gehen wieder. Vermutlich hat Mutti die etwas holen oder den Müll runter bringen geschickt und sie nutzen die Glegenheit. Ein Mann steht mit einer fetten Zigarre in der Türe und labert mit einem Mann der an der Theke sitzt. Er raucht theoretisch draußen.... Ich bezahle 5,20 packe ein und gehe weiter. Ich gehe etwas ziellos durch die Stadt, weil ich nicht weiß wolang es geht. Es fängt wieder an zu tröpfeln. Man Jakobus, das wird jetzt langsam lästig. Ich gehe etwas schneller die Hauptstraße entlang und sehe vor mir blauen Himmel im Westen. Da ich zumindest grundsätzlich nach Westen muß und es sich gut macht, gehe ich also dem bleuen Himmel entgegen. Hinter mir Regen. Vor mir blauer Himmel. Ich bleibe trocken, darf nur nicht stehen bleiben. Der Regen treibt mich quasi vor sich her. Über mir wie ein abgerissenes Stück Papier eine Wolke Kante an Kante mit dem blauen Himmel. Als würde Jakobus mir nicht nur den Weg weisen, sondern auch noch einen Schirm über mich halten. Klar, klingt vermutlich ein bischen konstruiert und zurechtgeschoben, um durch Zeichen und Wunder die Existenz eines Heiligen zu belegen und dessen Schutzfunktion. Naja kann jeder denken was er will.

Aber ich war da. Ich habe es gesehen!

Der heilige Thomas, auch einer aus dem Club der zwölf und quasi ein Kollege des Jakobus, lacht sich vermutlich gerade ins Fäustchen.

Später als erhofft aber trocken bin ich in der Herberge angekommen. Heute war härter als erwartet. Morgen und Übermorgen werden mit je 30 km richtig hart. Dann kommen ein paar einfachere Tage und das Bergfest ist in Sicht. Ich bin jetzt fast zwei Wochen auf dem Camino. Abends war ich noch in einer Dönerbude und habe eine türkische Pizza und drei Bier eingenommen und ein bisschen getextet.


Der Waldweg am Morgen wenige Meter nach dem Start.
Einfach nur schön.


Denkmal in der Ortsmitte mit historischer Bedeutung



Eine Ruine am Wegesrand. 
Daraus könnte man eine schöne kleine Bar machen, die sich in der Einöde hier richtig gut machen würde.

 
Oben ein Pfeil der die Richtung weist und vermutlich schon seit vielen Jahren hier liegt und unten ein Steinkreisel, den Pilger über viele Jahre weitergebaut haben.


Nachtrag:
Rundblickvideo von der Bergspitze
(eignet sich auch als Bildschirmschoner...)




Wieder ein schön platzierter Storch.




Borgos City: oben das Wetter hinter mir
unten das Wetter vor mir in Richtung Herberge!
Glaub es oder lass es.



Die Herberge: 
Außen historisch, innen modern.


Bilder der örtlichen Kathedrale: