Barbadelo nach Portomarin (aber ich werde wohl ein paar km weiter laufen)
Ein außergewöhnlicher Tag, mal wieder, doch dieser war etwas ganz besonderes und der Beginn einer neuen Erfahrung.
Als ich um 6:30 Uhr das erste mal auf die Uhr gesehen, habe, weil es nach dem Rascheln der letzen gefühlten Stunde nun verdächtig ruhig geworden ist aber immer noch dunkel draußen stelle ich fest, dass alle weg sind. Krass. Das wird immer früher. Warum? Egal, jeder wie er möchte. Ich beschließe auch aufzustehen, da ich erfahrungsgemäß 30-40 Minuten brauche, bis ich parat bin und dann ist es auch bald halb acht und Zeit zu gehen. So ist es auch. Vor der Türe treffe ich den Pilger, der gestern Abend kurz nach mir ankam. Er sitzt auf der Terrasse in Socken und raucht. Hat offenbar keine Eile. Warum steht der dann so früh auf und verlässt die Herberge? Ich gehe um das Haus um meine Wäsche im Hof von der Leine zu nehmen. Dann merke ich es: Der hat gar nicht in der Herberge geschlafen. Über dem Geländer hing ein Zelt zum trocknen und ein Schlafsack zum lüften. Die Herberge war eine Albergue Municipal, also eine kommunale Einrichtung. Dort gibt es kein Dinner und auch kein Frühstück. Die Pilger müssen sich selber versorgen. Das bedeutet auch, dass das Personal abends um 22:00 Uhr abschließt und morgens um 6:00 Uhr wieder öffnet. Jedoch ist vor acht Uhr morgens kein Reinigungspersonal vor Ort, die Herberge ist in dieser Zeit also verwaist wenn man so möchte. Der Piger schlief also in seinem Zelt auf der Wiese in der Nähe, hat dann gewartet, bis alle aus der Herberge raus sind und geht nun entspannt ins Bad: Dusche, Klo, Waschbecken, ready to go. Coole Idee eigentlich und für lau. Bei den privaten Albergues wird in der Regel morgens Frühstück angeboten und die Betreiber wohnen meist selber im Haus. Da würde das nicht funktionieren. Ich packe meine Sachen zusammen, sitze auf der Treppe und ziehe meine Schuhe an. Dann geht es los. Ich verabschiede mich von dem Pilger und sehe noch im Weggehen, wie er in die Herberge geht. Ich überlege kurz, ob ich noch an der Herberge von gestern Abend vorbei gehen soll, um etwas Wasser zu kaufen, da ich keinerlei Proviant mehr habe, stelle aber mit einem Blick in den Guide fest, dass heute alle 2-5km ei nOrt kommt. Also warum das Zeug schleppen. Verpflegung on Demand also.
Ich bin kaum auf dem Weg, da wundere ich mich, wie voll es hier ist. Etliche Pilger sind unterwegs. Die meisten sind Touristen. Im folgenden unterscheide ich daher zwischen Pilgern und Touristen. Die Touristen erkennt man daran, dass sie lauter sind, ein Handy in der Hand haben, teilweise laute Musik höhren, kleine Rucksäcke (also ohne Wäsche und Schlafsack und so) und meist in Gruppen auftreten. Sie gehen schneller und verhalten sich eben anders. Außerdem grüßen sie nicht freiwillig. Ich beschließe also, meine Grüße gegenüber Touristen auf ein Holla zu beschränken und nur die vermeintlich richtiger Pilger mit Bon Camino zu grüßen. Allerdings treffe ich entgegen der letzten Tage niemanden mehr, den ich schon mal gesehen habe. Vermutlich haben die das alle geahnt, denn wir sprachen in den letzten Wochen immer wieder mal davon, dass die letzten 100km unruhiger werden und das man entsprechend früher gehen sollte. Dabei war ich mit 7:30 Uhr früh und außerhalb einer zu erwartenden Tourismuszeit. Dachte ich. Die ersten drei Orte waren ohne Bars und die wenigen Geschäfte geschlossen. Sonntag! Ach herrje. Bin ich schon wieder auf einen Sonntag reingefallen. Erst nach 8km also die erste Bar und Gelegenheit für Frühstück und Wasser. So ein Scheiß. Und es ist Tourismus pur um mich herum. Es ist laut, es ist voll und ich habe das Gefühl ich bin in Altenberg oder so, wo die Leute mit Bussen rangekarrt werden. Schön alles Fotografieren, Souvniers kaufen, Kaffee und dann zurück. Was für eine Kacke. Und was mache ich nur mit dem Rest von diesem Tag. Ist dass wirklich nur heute oder ist das, weil heute im Laufe des Tages die letzten hundert Kilometer anfangen und Sarria die letzte große Stadt vorher ist? Wenn dass jetzt jeden Tag so geht, dann macht das keinen Spass mehr. Ich spüre, wie Ärger in mir aufsteigt und ich den Kopf nicht mehr frei bekomme. Keine ruhige Minute. Schneller gehen geht nicht, weil ich dann die nächsten einhole und vorlassen bringt nichts, weil ständig neue nachkommen. In der Bar habe ich eine halbe Stunde angestanden um ein Wasser, eine Limo und ein KitKat zu erwerben. Tierischer Stress um mich herum. Aber WiFi. Da ich gestern Abend mangels WiFi in der Herberge mit meinem Tagebuch nicht fertig wurde, beschließe ich also, das nun zu machen, da die letzte Veröffentlichung nun schon fünf Tage her ist und es seitdem kein Lebenszeichen von mir gab. Silke hat schon nachgefagt. Also werde ich in diesem Tourismuscafe 1-2 Stunden sitzen bleiben und hoffe darauf, dass die Touristen dann weg sind. Ich setze mich an einen Tisch mit zwei Frauen und grüße. Die sind mit ihren Handys beschäftigt und gucken irritiert. Kurz darauf verlassen sie den Tisch und ich sitze einen Moment alleine. Dann kommt eine junge Frau, die ich kürzlich am Wegesrand traf, als ich das Foto von der Wolke im Tal gemacht habe. Da ich dabei in Sonne blicken musste überkam mich automatisch ein Kribbeln und ich musste Nießen. Sie wünschte mir auf englisch gute Besserung und ich sagte Danke. Dann haben wir beide gelacht und uns kurz auf Deutsch unterhalten. Auf dem Weg hier hin habe ich sie heute Morgen am Wegesrand sitzen und etwas essen sehen und gegrüßt. Sie kommt auf mich zu und ihr Blick sagt alles. Sie setzt sich und wir reden kurz, sind beide ratlos. Aber es kommt noch dicker: Vor uns sammelt sich eine Gruppe Jugendlicher. Knapp hundert würde ich schätzen. Offenbar Pfadfinder oder so mit einem roten Halstuch, was viele auch an den Rucksack geknotet haben. Fähnlein Fieselschweif auf Tour. Abgesehen von Blasen, schmerzenden Knien und Sehnen und einer laufenden Nase, wird dies wohl die härteste Prüfung auf dem Jakobsweg. Sie haben ein mannshohes, weißes Kreuz dabei! Die junge Frau an meinem Tisch und ich wir sehen uns ratlos an und müssen lachen. Sie erzählt, dass sie gestern nachmittag schon vermehrt Touristen antraf und deswegen etwas abseits vom Weg Siesta gemacht hatte und erst Abends gelaufen war, bis 22:00 Uhr. Geschlafen hat sie dann draußen auf einer Wiese unter einem Baum. Das war zwar schön, aber sie wurde schon um 6:00 Uhr von vorbeiziehenden und plärrenden Touristen geweckt und es gab halt keine Dusche. Ich werde nachdenklich und erzähle ihr von dem Pilger heute morgen vor meiner Herberge. Ohne weiter darüber reden zu müssen, war uns beiden klar, wie der heutige Tag zu Ende gehen wird.
Ich beginne mit den Restarbeiten an meinem Tagebuch. Eine Weile nachdem das Fähnlein abgerückt ist, geht auch die junge Frau. Sie ist schon seit dem 7.5.18 auf dem Camino, auch von PDP aus und insgesamt seit Dezember auf Reisen. Will im Herbst Kunsttherapie studieren. Ich bleibe noch knapp eine Stunde sitzen und vollende mein Tagebuch bis einschließlich gestern und beantworte zwei E-Mails. Dann gehe auch ich wieder in den Zug der Touristen und laufe in eine Gruppe von ca. 25 Jugendlichen, Fähnlein II, die auch ein Kreuz dabei haben. Ich komme an ihnen vorbei und versuche etwas schneller zu sein um eine Lücke zwischen den Menschen zu bekommen. Dann vor mir eine Bar im nächsten Ort. Fähnlein Fieselschweif I hatte dort offenbar Rast gemacht und bricht gerade auf. Ich gerate mitten in die Gruppe und habe Gewaltgedanken. An einer Wegkreuzung schere ich aus, setze mich ratlos 20 Meter weiter auf die Straße und warte. Es ist genau der Punkt, an dem ich wenige Meter weiter die 100km Entfernungsmarke unterschreite. Seit ca. 70km stehen auf den Wegweisersteinen immer Entfernungskilometer zur Kathedrale in Santiago drauf. Die Begenung mit diesem Stein sollte ein besonderer Moment werden. Ich freue mich seit Tagen darauf, denn hier beginnt eine Art Countdown. Aber es soviel Trubel, dass ich emotionslos und eher etwas gefrustet an dem Stein einfach vorbei gehe und ihn nur im Vorbeigehen fotografiere, als ich wieder losging, nachdem auch Fähnlein II vorbeigezogen war. Es sind jetzt etwas weniger Leute unterwegs. Kurz vor Morgade treffe ich auch die junge Frau wieder und wir gehen noch ein Stück zusammen und machen dann gemeinsam Pause und holen uns einen Stempel, denn ab hier sind täglich zwei Stempel erforderlich, wenn man in Satiago eine Urkunde bekommen möchte. Hatte ich nicht mehr vor Augen und hätte ich vermutlich vergessen, wenn sie mich nicht daran erinnert hätte. Dabei habe ich vorher noch über die Stempeljäger gescherzt. Es ist deutlich ruhiger geworden. Morgade ist ca. 10km von Sarria entfernt. Vermutlich haben die Touristen ihr Tagespensum erreicht und auch die Fähnleins haben sich aufgelöst. Zu zweit gehen wir zum eigentlichen Tagesziel Portomarin. Dort ist ein großer Stausee. Wir entfernen uns etwas vom Camino und suchen nach einer Stelle, an der man an den See herunter kann. Dann finden wir in der Nähe eines Club Nautica einen schönen Platz unter ein paar Bäumen. Rucksack ab und erstmal schwimmen. Toll. Dann ins Gras und schlafen. Es ist still. Sie hat auf ihrem Handy einen Gong, der einmal pro Stunde gongt und sie damit auffordert, eine Minute Stille zu halten. Ist was budistisches. Anhand des Gongs waren es wohl ca. zwei Stunden, bis sie wieder aufbrach. Ich blieb noch und ging ein zweites mal schwimmen. Nutzte die Glegenheit, mich etwas zu waschen, wissend, dass es heute Abend vermutlich keine Dusche geben wird, und lege mich noch etwas in die Sonne insbesondere um die Füße zu trocknen. Dann packe ich in aller Ruhe zusammen und mache mich auf. Ich gehe zurück in die Stadt Portomarin, um ein paar Lebensmittel und etwas Wein einzukaufen. Notfalls in einer Bar. Während ich den Stausee verlasse, bedanke ich mich bei Jakobus sowohl für die Begegnung mit dem kleinen Engel (die junge Frau) wie auch die Zeit am Stausee und freue mich auf den Verlauf des Abends. Kaum in der Stadt, treffe ich auf die nervige kleine Italienerin und zwei Jungs, die ich auch schon mehrfach gesehen habe. Ich frage nach einem Supermarkt. Sie erklären mir wo der ist und das der wohl zu hat. Ich gehe trotzdem hin. Licht aus, Kasse aus, aber die Türe ist noch offen. Ich husche schnelle rein und greife zu. Die Kassiererin rechnet alles mit Stift und Papier zusammen, da die Kasse schon fertig ist. Ich bezahle und freue mich abermals. Der Tag wird doch ein gutes Ende nehmen. Ich habe ein Baguett, Wurst, Käse, Saft und Wasser sowie Wein. In einer Herberge auf dem Weg hole ich mir noch schnell einen Stempel und dann zurück auf den Camino und los. Ich weiß nicht wie spät es ist, aber die Straßen und Wege sind leer. Keine Menschen mehr. Die Sonne scheint und ich ziehe mein Shirt aus. Nach ein paar km treffe auf die nervige Italienerin in Begleitung von dem Typ und einem weiteren Mädchen. Wie reden kurz. Sie haben das gleiche vor wie ich und sitzen gerade auf einer Wiese um etwas zu rauchen. Vielleicht ist die gar nicht so tussi wie ich dachte. Noch etwas später treffe ich auf den jungen Deutschen (ich glaube der heißt Bodo, weiß ich aber nicht), Laura und Maria. Flavi ist nicht dabei, die legt wohl einen Pausetag wegen schmerzender Achillessehnen ein. Auch die haben das gleiche vor wie ich. Also gehen wir ca. 8km zusammen. Inzwischen ist es dunkel und ich mag nicht mehr. Die anderen wollen eigentlich weiter, aber ich habe ein großes, frische gemähtes Feld gesehen mit einem riesen Baum und einer Art Böschung umlaufend. Ideal also. Schneller Entschluß: Hier bleiben wir. Der Mond scheint noch hell. Wir essen und trinken und legen uns dann zu Ruhe. Die anderen Drei wollen schon zwischen drei und vier Uhr Morgens weiter. Ich nicht. Als die sich später aufmachen bleibe ich noch liegen.

Pilgergruppen und Fähnleins


100km Marke und Stausee

Der Schlaufplatz am Morgen danach:
