Calle nach Monte de Gozo
29km ohne nennenswerte Schwierigkeiten laut Guide
Dieser Etappe kann ich wieder im voraus ein konkretes Ziel geben. Ich habe nicht die Absicht, heute Abend oder Nacht noch nach Santiago hinein zu gehen. Das ist sowieso erst für Morgen geplant. Aber ich will so nah wie möglich ran und der Monte de Gozo ist der Berg 3km vor Santiago, von dem aus man die Stadt und die Kathedrale schon sehen kann. Da ich heute Nacht vermutlich sowieso nicht schlafen kann, will ich die Nacht auf diesem Berg verbringen. Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich sehr viele Gedanken habe. Zwischendurch, immer wenn mir bewusst wird, dass ich Morgen früh das Hauptziel meiner Reise erreichen werde, werde ich erfüllt von einer Mischung von Glück und Sorge sowie jede Menge Herzklopfen. Sorge, wie es sich wohl anfühlen wird dort anzukommen und vielleicht nicht zu wissen was dann werden soll und das die Reise nun fast vorbei ist.
Der Tag beginnt für mich gegen neun Uhr ohne besondere Vorkommnisse. Ich gehe los und erreiche gegen 10:15 Sanata Irene, ca. 3km vor dem Etappenziel Pedrouzo. Ich nehme einen Cafe in einer Bar und überlege, ob ich hier bleiben soll bis zum Nachmittag, entschließe mich aber dann doch, die drei km noch zu gehen. Vielleicht treffe ich in Pedrouzo auf ein paar alte Weggefährten. Unterwegs ärgere ich mich noch einige Male über die Weiber im allgemeinen. Immer da wo am Wegesrand ein schattiger schöner Platz ist, haben die hingepisst und ihre Taschentücher liegen lassen. Es sollte ein Gesetz geben, dass Frauen ähnlich wie Hundebesitzer immer eine kleine Plastiktüte bei sich zu führen haben, in der sie ihre Papierchen sammeln können, wenn sie schon in die Welt pissen müssen. Männer machen das auch, mich eingeschlossen, aber ich pisse in einen Busch am Wegesrand und nicht in einer lauschige Ecke, die als Rastplatz dienen könnte und vor allem lasse ich keinen Müll zurück. Und die Ausrede, dass das ja nur Papier ist und verottet ist Quatsch. Taschentücher verotten nicht, wenn sie einfach so rumliegen. Das dauert ewig. Ich spreche leise vor mich hin während ich das denke und werde von englisch sprechenden Leuten überholt. Ich kann verstehen was die sagen. Die aber vermutlich nicht was ich sage. Also englischsprachig aufzuwachsen ist sicher mit dem Vorteil belegt, dass man man ohne eine Sprache lernen zu müssen, sich überall in der Welt verständigen kann. Hat aber den überwiegenden Nachteil, keine eigene Sprache zu besitzen. Eine Sprache, die im Ausland nicht verstanden wird, eine Heimatsprache. Wenn sich hier Deutsche in deutsch unterhalten, dann sind sie unter sich. Englisch dagegen versteht hier jeder, zumindest jeder Pilger.
Vor mir kämpft ein Rotkehlchen mit einem Schmetterling. Dem Schmetterling gelingt es immer wieder abzuhauen, aber das Rotkehlchen fängt ihn immer wieder ein. Er ist jedoch zu groß für den Schnabel und so dauert es eine ganze Weile, bis der Kampf zu Gunsten des Rotkehlchens zu Ende geht.
Immer wieder werde ich von Leuten überholt oder überhole welche. Die meisten sind in Gruppen unterwegs und mit modernen, teleskopierbaren Wanderstöcken. Man sind die lästig. Nicht nur das es total affig aussieht, wenn jemand mit diesen Stöcken über einen völlig unproblematischen Weg geht, sondern es klappert auch irre. Mich nervt das ja immer nur parziell bis die vorbei sind, aber die müssen das den ganzen Weg lang ertragen. Das die das nicht selber stört wundert mich sehr. Auch die plärrenden Leute in Gruppen wundern mich und ich habe Mitleid. Die wissen gar nicht, was ihnen entgeht. Naja, nicht jeder geht den Jakobsweg aus den gleichen Motiven. Insbesondere die letzten 100km sind eben doch reiner Tourismus. Also wer den Jakobsweg wirklich erleben möchte, wer ein einprägsames und prägendes Erlebnis will, der sollte schon mehrere hundert Kilometer gehen und viel davon alleine. Und wer die Zeit nicht hat und wem die Urkunde wichtig ist, der sollte Abends gehen und den Touristen ausweichen. Das ist schon ein großer Unterschied und ich danke Gott für den kleinen Engel, der mich auf diese Idee brachte. Die Suche nach geeigneten Schlafplätzen im Freien in den letzten Tagen und die damit verbundene völlige Freiheit unterscheidet sich noch einmal erheblich von dem ohnehin schon großen Freiheitsgefühl der letzten Wochen. Ich bin nun fast 800km unterwegs und das Hauptziel liegt unmittelbar vor mir.
In Pedrouzo angekommen entdecke ich eine noch geschlossene Pizzeria am Ortseingang und weiß sofort, dass ich gleich eine Pizza essen und bis Nachmittag hier bleiben will, um dann im Abend wieder weitgehend alleine auf den Berg vor Santiago in ca. 18km Entfernung von hier zu steigen. Wobei es nicht viele Höhenmeter sind. Ich gehe die Stadt einmal rauf und wieder runter. Treffe auf die junge englisch sprechende Dame aus dem gestrigen Supermarkt, die schon aus weiter Entfernung winkt. Ich wechsel die Straßenseite und gehe zu ihr. Wir reden. Sie hat das gleiche Ziel wie ich. Na dann sehen wir uns ja sicher noch mal heute Nacht. Ich gehe zurück zu der Pizzeria und bin um 11:50 Uhr der erste Gast. Bier, Pizza, Cafe, Bier und vier Stunden Texten. Hinter meinem Tisch ist eine Steckdose zum Laden. Ich sitze direkt am Schaufenster und kann alle Pilger sehen, die in den Ort kommen. Es ist jedoch bisher kein bekanntes Gesicht dabei gewesen, außer Fragmente vom Fähnlein Fieselschweif. Ich blättere ein wenig in meinem Guide. Die hintere Umschlagseite war bisher immer hinter der Seite von Santiago eingeschlagen. Das sind nun nur noch drei Blätter und dann der weiße Umschlag. Das ist schon komisch, wenn ich da jetzt hinblättere. Ich bin froh und dankbar für die Erfahrungen der letzten Wochen, die rückblickend viel zu schnell vorüber waren. Ich wünsche jedem, dass er einmal in seinem Leben Gelegenheit bekommt, diese oder eine vergleichbare Erfahrung machen zu dürfen und ich kann jedem jungen Menschen nur empfehlen, die Zeit zwischen Schule und Beruf/Familie dafür zu nutzen, auch wenn die Erfahrung eine andere sein wird, als wenn sie mit Mitte vierzig gemacht wird. Für mich kommt sie zur rechten Zeit. An einem vermeindlichen Scheideweg. Beruflich/wirtschaftlich kann ich nichts mehr erreichen. Da können sich allenfalls die Zahlen noch ändern aber Einfluß auf meinen Lebensstil wird dies nicht mehr haben. Privat ist da noch viel möglich und ich bin gespannt auf das, was vor mir liegt. Aber es ist viel zu früh, um Abschied zu nehmen. Es liegen noch einige Tage vor mir und die wesentlichen noch dazu. Ich habe noch über 200,- EUR, da insbesondere die letzten Tage recht günstig waren.
Während ich so im Schaufenster sitze und fast fertig bin incl. des heutigen Tagebuches, zumindest bis hierhin, es ist inzwischen kurz vor fünf und ich sitze fast fünf Stunden hier!! - kommt die kleine nervige Italienierin am Fenster vorbei. Inzwischen hab ich die richtig gerne und wir unterhalten uns durch das Fenster, lautlos und ich stelle fest, dass ich Lippenlesen auf englisch kann. Also ein bißchen wenigstens. Sie will weiter nach Santiago. Ich nur bis zum Monte. Sie hofft auf ein Wiedersehen Morgen und wir wünschen uns einen guten Weg.
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Die Pizza, zwei Bier und ein Kaffee im Bauch mache ich mich also los, zu dem letzten Ziel vor Santiago, dem berühmten Monte de Gozo, von dem aus man Santiago vor und unter sich liegen sehen können soll und wohl auch schon die Kathedrale ausmachen kann. Ich gehe davon aus, dass viele Pilger, insbesondere die, die mehrere hundert Kilometer gepilgert sind, auf dieser Anhöhe sein werden, um sich den Sonnenuntergang, den Sonnenaufgang oder beides anzusehen, die Gedanken zu sammeln und die Erlebnisse der letzten Wochen revue passieren zu lassen, bevor es dann am nächsten Morgen zum Endspurt geht. Ich jedenfalls habe das vor. Am Ortsausgang wartet ein langer Waldweg, wieder mit Eukalyptusbäumen wie so oft in den letzten Tagen, auf mich. Dann höhre ich zwei Flugzeuge starten. Das ist ganz schön laut. Ich streife den Flughafen und komme wieder in einen Wald. Der Wind wird etwas mehr, dafür blinzelt das erstemal seit Tagen die Sonne gelegentlich durch die Wolken. 18km sind es und ich komme gut voran. Die Füße merke ich gar nicht mehr. 4km vor dem Monte komme ich durch Lavacolla. Dort ist eine Albergue und ein kleiner Supermarkt am Wegesrand. Ich gehe in den Supermarkt und kaufe mir zwei Flaschen Wino tinto. Wasser habe ich noch und auch noch Snakreste. Dann gehe ich in die Herberge um mir einen Stempel zu holen. An der Anmeldung vorne ist keiner und hinten durch liegen ein paar Pilger in den Betten. Ich klingel vorne auf der Tischklingel, aber es tut sich nichts. Na gut, dann gehe ich mal aufs Klo und lass die Pizza raus. Danach ist immer noch keiner da. Dann setze ich mich in den Vorraum und überlege, ob ich mir den Stempel einfach selber gebe, gesehen habe ich ihn. Zunächst öffne ich eine Flasche Wein, fülle den Inhalt in eine 0,5l Plastikflasche um, in der heute Nachmittag noch Cola war und trinke den Rest einfach aus. So kann ich schon mal ein Flasche hier lassen und Gewicht sparen. Als ich gerade fertig bin kommt endlich einer. Ich lasse die leere Weinflasche unter dem Tisch verschwinden, hole mir den Stempel und verschwinde. Ein paar hundert Meter weiter komme ich nun an die Stelle, die die letzte offene Wasserstelle vor Santiago ist. Ein kleiner Bach, in dem sich die Pilger seit über tausend Jahren gewaschen haben, bevor sie in die große Stadt gingen. Die Stelle ist unscheinbar und ich gehe zunächst daran vorbei und gucke ob es noch eine gibt. Aber kurz darauf steigt der Weg steil an und geht zum Monte hinauf, da ist eine solche Wasserstelle nicht mehr zu erwarten. Es ist unromantisch und gut einsehbar und es wirkt nicht so, also hätten sich hier über tausend Jahre hinweg mehrere Millionen Menschen gewaschen. Zudem wird das Wasser eiskalt sein. Ich überlege und drehe mich etwas im Kreis. Es ist niemand hier. Die Touristen sind von der Straße und die wenigen Pilger, die noch unterwegs sind, sind vermutlich schon hier durch, da es schon acht ist und bis zum Monte noch 9km. Also los. Ich überzeuge und ermutige mich selber und beginne mit den Vorbereitungen. Handtuch raus, frische Unterhose und Socken und Shirt. Habe ich alles noch. Nur geduscht seit zwei Tagen nicht, da keine Herberge in der Nähe meiner Schlafplätze war. Dann lege ich meine Sachen ab und steige in Unterhose und FlippFlopps, immer noch die aus Roncesvalles, in den Bach. Puh. Das ist schon an den Füßen kalt! Dann erstmal die Arme waschen, dann die Beine, Kopf, Gesicht und, uhhhhh, die Brust. Und so nach und nach eben alles. Dann setze ich mich in den Bach und waschen noch die Fugen und so. Dann wieder raus. Unterhose aus und abtrocknen. Just in diesem Moment kommt die kleine nervige um die Ecke mit dem Schwätzer der in Jürgens Umgebung schon mal auftauchte. Sie grüßen freundlich, sie nimmt Stellung und wünscht viel Spaß. Sie gehen schnell weiter. Ich trockne mich ab und ziehe mich an. Dann setze ich mich eine halbe Stunde in die gelegendlich durch die Wolken blinzelnde Sonne und lasse die Füße trocknen. Tapen, packen und wieder los. Anhand der Wasserstelle war deutlich erkennbar, dass sich heute hier keiner gewaschen hat. Es war nichts nass und keine Spritzer. Naja, seit ein paar Jahrzehnten gibt es eben auch hier fließend Wasser in den Herbergen. Egal. Ich habs getan und mich eingereiht in ein Tradition, die auch in vielen hundert Jahren im Vergleich zur Modernen Dusche immer noch die längere Geschichte hat. Ich fühle mich sauber und frisch und hochmotiviert, nun den Berg zu erklimmen und hoffe auf einen Sonnenuntergang über Santiago, was ja im Westen liegt. Während ich die letzten Kilometer des steilen Bergweges erklimme, fallen mir viele Momente der letzten Wochen ein. Außerdem rechne ich etwas. Bekanntlich sind 600 Doppelschritte ein Kilometer. Also ist ein Schritt so in etwa 80cm. Da ich auf einem großen Teil der Strecke nicht mit schnellen und großen Schritten gegangen bin, weil es wegen des komplizierten Weges oder aus physischen Gründen eben nicht ging, waren die Schritte oftmals nur 30-50 cm. Keine Ahnung wie das im Mittel aussieht, aber geschätzt würde ich sagen 60cm. Bei 1000km, die es mit den noch vor mmir liegenden gut 100km noch werden, habe ich auf dieser Reise also gschätzte 1,7 Millionen Schritte gemacht. Bei gut einem Dutzend Blasen und fast keinen sonstigen Beschwerden. Krass!
Ich erreiche den Monte de Gozo und gehe weiter an dem riesigen Campingplatz vorbei zum Park. Ich kann Teile von Santiago wohl sehen, aber die Kathedrale kann ich nicht ausmachen. Dafür ein herrlicher Sonnenuntergang. Hinter der Anhöhe im Park wurde ein großes Festival aufgebaut. Bühne, Pavillons, Absperrungen, etc. stehen schon. Vermutlich für das Wochenende. Es ist Soundcheck und ich bin auf der riesen Wiese komplett alleine. Nur ein paar Kaninchen hoppeln verwirrt um mich herum. Perfekt. Ich lasse mich nieder und öffne meinen Wein. Jetzt habe ich Zeit das Orange zwischen den Bäumen über Santiago zu genießen, ein wenig Musik im Hintergrund durch den Soundcheck, Wein, meine Gedanken und mich. Gegen Mitternacht richte ich mein Lager her und mache mich lang.

Oben: Der Waschplatz
Unten: Frisch gewaschene Pilgerfüße beim trocknen


Sonnenuntergang über Santiago am Abend vor der Ankunft vom Monte de Gozo aus zu sehen.


Der Monte de Gozo Park. Beim genauen hinsehen kann man vielleicht erkennen, dass das linke untere Licht keine Lampe sonder deer Vollmond ist.


Das aufgebaute Fest unter dem Vollmond. Auf diesem Hügel habe ich geschlafen und am Morgen dann auch den Sonnenaufgang sehen können gegenüber eben.
Und hier noch ein Video von Santiago bei Nacht am Abend vor der Ankunft.